UPDATE 01.11.2022 – Petition gegen die Diskriminierung von Chronotypen ist gestartet. Hier geht es direkt zur Petition.
UPDATE 19.09.2022 – Die Antidiskriminierungsstelle hat geantwortet. Hier geht es direkt zur Antwort.
Seit langem treibt mich das Thema Diskriminierung von Normal – und Spättypen um. Oft habe ich mir dabei die Frage gestellt: „Ist man überhaupt schon bereit dafür, das zu verstehen?“ Aber ich werde auch immer häufiger darauf von anderer Seite angesprochen.
Der Hype um die „woke“ Gesellschaft treibt skurriele Blüten und man muss aufpassen, dass man nicht in das Fahrwasser derjenigen gerät, die etwas den Blick für die Verhältnismäßigkeit verloren haben. Denn genau das ist das Problem. Die Grundidee eines woken Menschen entstammt aus den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts und ist gut. Achtsam gegenüber Diskrimierung zu sein ist ein wichtiger Aspekt einer fortschrittlichen #Gesellschaft. Nur die aktuelle Definitionsbreite von „Diskriminierung“ wächst schneller als der durchschnittliche Verstand hinterherkommt.
Die Tatsache, dass ich ein extremer Spättyp bin, ist keine Frage des Wollens oder eine Katalogbestellung, sondern es liegt in meinen Genen, wie meine Fußgröße. Unsere Gesellschaft, nebst vieler Rechtsvorschriften ist jedoch so ausgelegt, dass sie Frühtypen entspricht und damit Normal- und vor allem Spättypen benachteiligt. Was für die einen „lächerlich“ klingt, bedeutet für die anderen gesundheitliche Beeinträchtigung bis zu dauerhaften Schädigungen. Und beim Thema Kinder/Jugendliche hört für mich der Spaß auf.
Die Antidiskriminierungsstelle der Bundesregierung schien für mich nun die richtige Stelle, diese Diskriminierung tatsächlich erst einmal aufzuzeigen, um zu sehen, wie man darauf reagiert.
Insofern: Folgende Mail ging gestern, 16.08.2022 an die Antidiskriminierungsstelle raus:
Sehr geehrte Damen und Herren,
die klassischen Diskriminierungsthemen kennen wir. Hautfarbe, Nationalität, Geschlecht, Behinderung, sexuelle Orientierung oder Haarfarbe sind Grundlagen, auf denen täglich Diskriminierungen stattfinden, die die Mehrheit auch als solche wahrnimmt. Eine wichtige Basis für eine Diskriminierung ist zum Einen die Tatsache, dass die betroffene Person prinzipiell keine Wahlfreiheit hat und/oder die Alternative zur bestehenden Ausprägung für diese eine große psychische Belastung darstellt. Dies kann z.B. für die sexuelle Ausprägung gelten. In der Regel sind es vor allem genetische Prädispositionen, die Grundlage für Diskriminierungen sind, wie eben Hautfarbe, Geschlecht, Haarfarbe etc..
Hier besteht keinerlei Alternative für die Betroffenen, aus der Diskriminierungsnummer heraus zu kommen. Eine weitere wichtige Grundlage ist das Vorhandensein eines Wissensstandes, der einen Umstand überhaupt als diskriminierend bzw. benachteiligend identifizieren kann.
Tatsächlich gibt es Diskriminierung, die als solche überhaupt erst durch wissenschaftliche Erkenntnisse erkennbar wird. Ein solches Beispiel ist die Diskriminierung von Chronotypen.
Als Chronotypen werden in der Chronobiologie individuelle, genetisch bedingte Schlaf-Zeitfenster der Menschen nach Lage im Tagesverlauf und Häufigkeit in der Bevölkerung kategorisiert.
Die aktuelle Situation
Unsere Gesellschaft tickt früh. Arbeitszeiten, Schulbeginn etc. sind vor allem seit der Industrialisierung fest mit dem frühen Morgen verankert. Ob jemand morgens fit oder müde war, wurde dem eigenen Verhalten zugeschrieben, aber keiner genetischen Prädisposition. Deswegen wurde auch keinerlei Versuch unternommen, daran etwas zu ändern.
Seit den Bunkerexperimenten von Andechs durch Prof. Jürgen Zulley zwischen den 60er und 80er Jahren, stellt sich dies jedoch anders dar. Der Begriff der Chronotypen wurde geboren und die Experimente haben bewiesen, dass es in den Genen liegt, ob wir Frühtyp, Normaltyp oder Spättyp sind, und nicht dem Willen einer Person entspringt.
Seit damals hat sich die Wissenschaft der Chronobiologie und das Wissen um Chronotypen weiterentwickelt und inzwischen ist ein Chronotyp über einen wissenschaftlich validierten RNA-Test ermittelbar. In eigenen Projekten zusammen mit der AOK Bayern und Wissenschaftlern der FOM Essen und der Charité Berlin hat sich alleine in einer Klinik bei 128 über einen RNA-Test chronotypisierten Mitarbeiter*innen eine Bandbreite von 13,5h zwischen dem frühesten und dem spätesten Chronotyp ergeben.
Wissen begründet Diskriminierung/Benachteiligung
Hat früher das Unwissen vor dem Vorwurf einer Diskriminierung geschützt, ist dieses Argument nun weggefallen. Heute ist die Benachteiligung von einzelnen Chronotypen durch das vorhandene Wissen darum schlicht eine Diskriminierung. Gibt es sicher auch Fälle, in denen Frühtypen benachteiligt sind, sind es vor allem aber Normal- und Spättypen die durch fixe Arbeits- und Schulzeiten diskriminiert werden, teilweise sogar durch gesetzliche Regelungen selbst (z.B. Schulzeiten). Längst gibt es ausreichend wissenschaftliche Evidenz, dass z.B. die Schulbeginnzeiten vor allem bei Jugendlichen, einzig den Frühtypen unter den Schüler*innen in Sachen geistiger Fitness keinen Nachteil bringen. Normal- und Spättypen haben, wissenschaftlich belegt, keine Alternative, um diesen Nachteil auszugleichen. Früher ins Bett gehen ist auf Grund der genetischen Prädisposition nicht oder nur mit medikamentöser Unterstützung möglich. Das wäre das gleiche, als ob man Schüler*innen mit Fußgröße 42 in Schuhe mit Größe 40 zwingt. Es geht vielleicht, aber dauerhaft entstehen Schäden, und eine Benachteiligung zu Schülern mit der Fußgröße 42 ist unschwer zu erkennen.
Ganz dramatisch wird es bei Prüfungen. Spättypen wie auch Normaltypen morgens um 8.00Uhr einer entscheidenden Prüfung zu unterziehen ist so, als ob alle Sprinter*innen per Regelung des Sportverbandes mit einer Schuhgröße ins Rennen geschickt werden. Solche Prüfungszeiten sind eine klare, wissenschaftlich nachweisbare Benachteiligung von Normal- und Spättypen. Auch diese Prüfungszeiten werden im Rahmen gesetzlicher Regelungen vorgeschrieben. Es findet also eine unmittelbare Diskriminierung lt. AGG seitens staatlicher Institutionen statt.
Gesundheitsaspekt
Zu dem Benachteiligungsaspekt kommt hinzu, dass diese Diskriminierung ergänzend zu einem höheren Risiko gesundheitlich negativer Folgen führt. Vor allem die Schulzeiten, aber auch Arbeitszeiten führen zu Schlafdefizit, welches in der Entwicklungsphase von Jugendlichen und später von Erwachsenen nachweislich das Entstehen von Depressionen, Suchtverhalten, schwachem Immunsystem, Bluthochdruck, späterem Risiko Herzinfarkt, Risiko Diabetes etc. fördert. Auch hier muss man sich ins Bewusstsein rufen, dass überwiegend keine Alternativen bestehen, sie also zwangsläufig in dieses Risiko gedrückt werden.
Forderung
Auf Grund des Wissens ist es an der Zeit, Schul- und Arbeitszeiten aus der „Nice to have!“-Ecke in den gesetzlichen Fokus zu rücken, denn es findet definitiv eine Diskriminierung einer großen Gruppe an Menschen statt, für die keine Alternative zur Verfügung gestellt wird. Vor allem die aktuellen Schulzeiten sind kein „Kavaliersdelikt“ mehr, in welchem Lehrer, Eltern oder Bildungsverantwortliche mit ihren „Meinungen“ zur Entscheidungsfindung beitragen, sondern es müssen gesetzliche Regelungen auf Basis der wissenschaftlichen Fakten geschaffen werden, die dieser Diskriminierung entgegensteuern – nicht zuletzt auch zum Wohle unsere Kinder und deren Voraussetzungen für eine berufliche Zukunft, die nicht vermeidbar von ihren Genen abhängt.
Ich bitte Sie zunächst den Eingang dieser Mail per einfacher Rückmail zu bestätigen, und mir dann einen Weg aufzuzeigen, wie Sie diesen Sachlage beurteilen, bzw. gegen diese Diskriminierung/Benachteiligung vorzugehen gedenken, die ich hiermit anzeige.
Ich bedanke mich schon jetzt für Ihre zeitnahe Rückmeldung, und stehe Ihnen für weitere Fragen selbstverständlich gerne zur Verfügung!
Meine weiteren Kontaktdaten entnehmen Sie bitte der Signatur!
Mit freundlichen Grüßen
Michael Wieden
Mal sehen, ob überhaupt reagiert wird.
Ich weiß, dass ich damit vielleicht eine sehr kontroverse Diskussion anstoßen werde, denn die Auswirkungen können immens sein. Aber zu einer fortschrittlichen Gesellschaft gehört es auch, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die für viele in der Umsetzung mehr bedeutet, als nur Sprache anzupassen. Aber im Endeffekt profitiert die Gesellschaft als Ganzes von einer solchen Diskussion.
Ich freue mich auf jeden Fall auf eine respektvolle Diskussion.
Viele sonnige Grüße
Michael Wieden
UPDATE 19.09.2022 - Antwort der Antidiskriminierungsstelle des Bundes
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat auf meine Mail vom 16.08.2022 geantwortet. Hier der Wortlaut:
haben Sie vielen Dank für Ihre Anfrage bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes vom 16. August 2022 und entschuldigen Sie bitte ausnahmsweise die verzögerte Bearbeitungsdauer aufgrund eines stark erhöhten Beratungsaufkommens.
Sie machen uns in Ihrer E-Mail auf die Benachteiligung von Chronotypen aufmerksam.
Aufgabe der Antidiskriminierungsstelle des Bundes ist es, betroffene Bürger*innen zu ihren Handlungsmöglichkeiten nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zu beraten und informieren. Die Beratung durch die Antidiskriminierungsstelle des Bundes kann eine ausführliche und persönliche Rechtsberatung nicht ersetzen, sondern ist vor allem dafür gedacht, eine erste rechtliche Einschätzung zu ermöglichen.
Eine Einschätzung, ob eine Diskriminierung vorliegt, beurteilen wir anhand des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG).
Nicht immer entspricht das allgemeine Verständnis von Diskriminierung und Benachteiligung dem rechtlichen Begriff des AGG. Auf Grund unseres gesetzlichen Auftrags können wir Ihren Fall nur rechtlich bewerten.
Das AGG verbietet Benachteiligungen aus rassistischen Gründen, wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität im Erwerbsleben und bei bestimmten privaten Rechtsgeschäften.
Der gesetzliche Katalog der geschützten Diskriminierungsgründe ist abschließend, vergleiche § 1 AGG. Ungleichbehandlungen aufgrund anderer Kriterien oder Merkmale können daher nicht über das AGG geahndet werden.
Zwar gibt es bereits Überlegungen, den Katalog zu erweitern (bspw. sozialer Status und Staatsangehörigkeit). Allerdings ist das Merkmal „Chronotyp“ bisher noch nicht in Erwägung gezogen worden. Möchten Sie dies in den politischen Diskurs einbringen, haben Sie die Möglichkeit eine Petition in den Bundestag einzureichen: https://epetitionen.bundestag.de/.
Wir hoffen, dass wir Ihnen mit diesen Informationen behilflich sein konnten und wünschen Ihnen alles Gute.
Mit freundlichen Grüßen
Im Auftrag
Mira Johanna Loos (sie/ihr)
Referentin
Mein Kommentar dazu
Was mir zugegebenermaßen neu war: Diskriminierung entsteht also erst, wenn das AGG es als Diskriminierung beschreibt. Das ist wie bei Krankheiten. Eine Krankheit wird rechtlich erst zu einer Krankheit, wenn sie im ICD gelistet ist.
Interessant ist, dass genetische Prädispositionen generell keinem Schutz vor Diskriminierung unterliegen, sofern sie zu keiner Behinderung führen oder eben im Einzelnen im AGG aufgeführt sind. Somit ist aktuell genau genommen eine Diskriminierung auf Grund von Haarfarbe, Sommersproßen, Gesichtsform, Chronotyp u.v.m. keine Diskriminierung, weil diese nicht im AGG gelistet ist. Das Verfahren, wie man dies erreichen kann ist im Antwortschreiben vorgezeichnet.
Es ist also nun der nächste Weg, Diskriminierung genetischer Prädispositionen (und nicht nur des Chronotyps) ebenfalls in das AGG zu bekommen, denn es erscheint mir wenig zielführend, dies nur auf spezielle genetische Ausprägungen zu begrenzen. Dazu braucht es Unterstützung.
Wer die Petition mitzeichnen möchte, findet diese hier.
Statements von Wissenschaft und Experten zur Petition
Dr. Giulia Zerbini, Chronobiologin und Schlafforscherin an der Uni Augsburg
„Als Schlafwissenschaftlerin unterstütze ich die Petition „Diskriminierung von Chronotypen“. Chronotyp beschreibt die optimale biologische Zeit für Aktivität (inkl. Leistung) und für Schlaf. Welchem Chronotyp jemand zugeordnet wird, ist von genetischen und biologischen Bedingungen, von Umweltbedingungen und vom Lebensalter beeinflusst. Eine Veränderung des Chronotyps unterliegt also nur sehr eingeschränkt unserem Willen, was dafürspricht, dass Chronotyp eine Eigenschaft ist, aufgrund deren man diskriminiert werden kann. Und tatsächlich Spättypen (diejenige, die spät ins Bett gehen) sind oft bezüglich der (Schul)Leistung und auch der Gesundheit benachteiligt, weil Schulen und Jobs traditionell früh anfangen. Das wissenschaftliche Beweisen für eine Benachteiligung von Spättypen gibt es seit vielen Jahren und jetzt ist es Zeit für eine Veränderung unserer Gesellschaft.“
Prof. Dr. Gerald Hüther, Neurobiologe
„Wenn wir in unserem Land so viel Wert auf die Chancengleichheit von konstitutionell benachteiligten Bevölkerungsgruppen legen, dann ist es auch höchste Zeit, diejenigen vor Benachteiligung zu schützen, deren „biolgische Uhr“ so eingestellt ist, dass sie frühmorgens in der Schule noch nicht richtig wach und aufnahmefähig sind.“
Prof Dietrich Henckel, Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik
„Weil die starren sozialen Rhythmen bestimmmte Chronontpen systematisch benachteiligen.
Weil durch die Sommerzeitregelung die Benachteiligung bestimmter Chronotypen zusätzlich verschäft wird.“
Markus Kamps, Schlafcoach, Vorstandsmitglied des DACH Verbandes der Schlaf- und Chronocoaches
In unserer Tätigkeit als Berater sind insbesondere bei Firmenseminaren und hier zum Thema Schicht immer wieder ehebliche Unterschiede bei der Arbeitsleistung und bei akuten Schlafstörungen festzustellen. Wie schön wäre es hier Home Office oder Schichtarbeit – harmonischer nach Chronotyp zu organisieren und dabei auch noch dem Mitarbeiter und der Firma gutes zu tun.
Ulrike Jung, Schlafcoach, Inhaberin Akademie Vita-Pad
„Leben und Arbeiten nach dem eigenen chronobiologischen Rhythmus ist das Fundament für Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Arbeits- und erwartete Aktivitätszeiten sind jedoch vorwiegend auf Frühtypen ausgerichtet“