Kann die Chronobiologie tatsächlich einen neuen Schub für Schule und Bildung darstellen? Die klassischen Schulzeiten sind so flexibel wie ein Tanker im Baggersee. Genauso kontrovers wird über die Schulbeginnzeiten diskutiert. Meine ersten Erfahrungen dazu durfte ich bereits vor über 10 Jahren sammeln.

Die Macht des Status Quo

Vor knapp 10 Jahren hatte ich einmal in einer „innovativen“ Gruppe der Businessplattform „Xing” folgenden Text gepostet:

Aus der Chronobiologie wissen wir, dass es genetisch bedingte, unterschiedliche Chronotypen gibt. -z. B. Lerche und Eule. 80 % der Menschen müssten eigentlich mindestens bis 8.00 Uhr schlafen, um ihrem natürlichen Schlafrhythmus zu entsprechen. Die meisten sogar länger. Die wenigsten tun dies. Unser Bildungssystem bietet,wie unsere Arbeitszeiten, einzig den Lerchen eine gute Voraussetzung langfristig gute Leistungen zu bringen. Wir alle lernen zu Hause automatisch zu Zeiten, zu denen wir wissen, dass wir aufnahmefähig sind. Immer wieder kommt es vor, dass Schüler (Erwachsene wie Kinder) keine Probleme haben, Lerninhalte während der Prüfungsvorbereitung abzurufen. Die Prüfungen selbst finden jedoch oft zu Zeiten statt, zu

welchen diese Chronotypen nur bedingt oder gar nicht in der Lage sind, dieses Wissen erneut abzurufen. Ich erlebe diese Situationen bei Prüflingen oft in mündlichen Prüfungen. Was dann als Prüfungsangst abgetan wird, ist oftmals schlichtweg mit der Tatsache zu begründen, dass es Menschen gibt, die z. B. morgens um 8.00 Uhr genetisch bedingt einfach Probleme haben, Wissen abzurufen. Dumm vor allem, dass die dann folgenden Noten eben langfristig ein niedrigeres Leistungs- und Begabungsniveau vorgaukeln, als eigentlich vorhanden. Wie könnte in der Wissensvermittlung dem entgegengesteuert werden? Oder sehen Sie darin gar kein Problem? Ich freue mich auf Ihr Feedback.

Die darauf folgenden, absolut aggressiven Reaktionen hatten mich selbst überrascht. Mein Ansatz wurde als ,lächerliches Thema“ abgetan und ich selbst als esoterischer Clown bezeichnet. 3 Personen (männlich) torpedierten mich auch persönlich wie in einem Rausch, ohne dass auch nur den Ansatz von Aggressivität von meiner Seite ausging. Argumentum ad hominem regierte die ersten Kommentare, auf meine Fragen, Anmerkungen und Reaktionen selbst wurde überhaupt nicht mehr reagiert. Heute ist so eine Form der „Diskussion“ schon Standard und man stellt sich darauf ein, damals eher weniger.

Interessanterweise habe ich währenddessen Mails anderer Personen erhalten, die offensichtlich den Thread verfolgten und erkennen ließen, dass man an der Diskussion selbst auf Grund des Verlaufes nicht teilnehmen möchte, das Thema sie aber sehr interessieren würde. Erst als sich die drei Herren ausgetobt hatten, kam langsam eine intensivere, konstruktive Diskussion in Gang, und sogar die vorher verschreckten Personen fingen an, sich direkt an der Diskussion zu beteiligen. Innerhalb der nächsten drei Tage wurde dieser Diskussionsfaden über 1200mal aufgerufen, begleitet von über 100 sehr konstruktiven Beiträgen.

Gute Ideen werden erst belächelt, dann bekämpft und schließlich kopiert. Hier spiegelt sich auch die bereits von mir immer wieder angesprochene Angst vor Veränderung wieder. Je logischer etwas klingt, desto intensiver und aggressiver wird es aus dem Stand bekämpft, sofern man damit eigene Weltbilder oder sogar Komfortzonen gefährdet sieht. Und der Gedanke von Chronobiologie in Schule und Bildung scheint Weltbilder zu erschüttern. Es zeigt auch, dass unser Bildungssystem im Vergleich zur Arbeitswelt noch wesentlich stärker dogmatisiert und von alten Vorstellungen geprägt ist, was sicher auch an der staatlichen Verwaltungsstruktur liegen mag. Innovative Gedanken haben es hier wesentlich schwerer, ans Licht zu kommen. Doch auch hier machen sich durchaus neue Einsichten breit, solange man sich eben traut!

Das Leid der Normal- und Spättypen

Diese Grafik aus dem Ergebnisbericht des Bodyclock Chronotyp Test zeigt, dass ich ein extremer Spättyp bin
Mein Chronotyp

Wie die Arbeitswelt auch, übervorteilt vor allem das klassische Bildungssystem die Frühtypen. Normal- oder gar Spättypen werden, und dies meine ich, so wie ich es schreibe diskriminiert. Der Bildungssektor ist nach wie vor noch sehr mit den Mustern unseres vor knapp 150 Jahren entstandenen Bildungssystems verhaftet. Diese Muster spiegeln sich auch in der betrieblichen Fort- und Weiterbildung wieder. Die Klassensituation ist dort genauso gegeben, wie in der Regelschule. Unterrichtszeiten von 8.00 bis 16.00 Uhr, Mittagspausen um 12.00 Uhr und 45 min Unterrichtseinheiten sind Standard. Wie in den Regelschulen lernen Erwachsene zusammen, statt zusammen etwas zu erarbeiten. Und wer nicht konzentriert ist (sein kann) hat grundsätzlich erst einmal das Nachsehen. Oft höre ich den steinzeitlichen Satz ,„Nur die Harten kommen nun mal in den Garten!“.
Meine Tochter musste bereits um 5.30Uhr aufstehen, um um 8.00Uhr in der Schule zu sein. In ländlichen Gebieten keine Seltenheit, dass kein Gymnasium um die Ecke steht.

Altersentwicklung des Chronotypen
Altersentwicklung des Chronotypen

Das Problem: Aus der genetischen Prädisposition heraus, sind Jugendliche im Schnitt bis zur Adoleszenz oft leichte bis extreme Spättypen. Deren Schlafmitte liegt in der Normalzeit in der Regel zwischen 4 und 5 Uhr nachts. Das bedeutet, dass sie regulär zwischen 8.00 und 9.00Uhr natürlicherweise aufwachen würden. Die Realität klingelt sie aber schon 2,5-3,5 Stunden früher aus dem Schlaf. Und … nein … einfach früher in Bett gehen, funktioniert erst dann, wenn sich ohnehin schon so viel Schlafdruck aufgebaut hat, dass sie im Stehen umfallen.

Ob Regelschule, Berufsschule, Studie oder Weiterbildung, die Gene der Spättypen machen ihnen in unserem Bildungssystem einen Strich durch die Rechnung. Volkswirtschaftlich gesehen, ein gigantisch verschwendetes Potenzial.

Lösungsansätze für mehr Chronobiologie in der Schule

Diese zwei Lösungsansätze hatte ich bereits in meinem erste Buch „Liquid Work, Arbeiten 3.0“ in 2012 vorgestellt. Da sich unser Bildungssystem eher wie ein Tanker bewegt, haben sie auch nach 10 Jahren nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.

Kollaboration

Alleine das gemeinsame Erarbeiten eines Themas unter Anleitung würde mehr Erfolg bringen als reines Vortragen von Lehrinhalten. Das gemeinsame Erarbeiten erlaubt jedem auch Zeiten, in welchen er wenig zum Geschehen beitragen kann. Dennoch ist er wesentlich aktiver dabei, als wenn er ausschließlich jemanden zuhört. Somit kommt eine solche Form des Erarbeitens nicht nur den verschiedenen Lerntypen (auditiven, visuellen, kommunikativen und motorischen) entgegen, sondern auch den unterschiedlichen Chronotypen. Denn auf diesem Wege werden sie quasi von den anderen ein Stück weit über die Zeiten des Leistungstiefs „,hinweggetragen”. Gleichzeitig können kollaborative Lerngruppen auch nach Chronotypen zusammengestellt sein, was den Lerneffekt verstärken würde

3-Säulen Modell und freie Pausenzeiten

Chronotypenoptimierter Unterricht
Chronobiologie in der Schule über chronotypenoptimierten Unterricht

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, Effektivität und Aktivität nicht durch vorgegebene Pausenzeiten zu unterbrechen. Ebenso muss natürlich vermieden werden, dass Teilnehmer sich bis zur vorgegebenen Pausenzeit durchkämpfen müssen. In diesem Fall geht die Aufnahmefähigkeit ohnehin schon weit vor der Pause gegen Null.

Wesentlich mehr Sinn macht es, hier den einzelnen Teilnehmern selbst zu überlassen, wann sie im Einzelnen oder in der Gruppe einen ,„Break” benötigen. Die Teile von Lehrinhalten, welche tatsächlich zunächst auf klassischem Wege vermittelt werden müssten, werden dann aus einem Mix aus Videos und Frontalunterricht angeboten. Dies könnte so aussehen, dass bestimmte Inhalte via Frontalunterricht im Block z. B. von 2 Stunden mehrmals am Tag angeboten werden und die Schüler/Teilnehmer hier je nach Bedarf darauf zurückgreifen. Ergeben sich Situationen, in welchen mittelfristig bestimmte Zeiten nicht genutzt werden, können sie entfallen. Die orangen Punkte stehen dabei für die Frühtypen, die grünen für die Normaltypen, und die gelben für die Spättypen. Dieses Beispiel soll und kann bewusst kein ausgefeiltes, pädagogisches Konzept darstellen. Es soll einzig Denkanstöße bieten. Es kann als Grundlage dienen, eigene Ausprägungen innerhalb der Unterrichte von Bildungsträgern oder auch Unternehmen zu generieren.

Denkanstöße statt neues Korsett

Genauso wie jeder Mensch anders tickt, tickt auch jedes Unternehmen anders. Beispiele, egal ob nur auf dem Papier bestehend, oder bereits in einzelnen Fällen in der Realität praktiziert, dürfen generell nie 1:1 verglichen werden bzw. dazu missbraucht werden, neue Korsette zu erstellen, in die Schüler oder Mitarbeiter hineingezwängt werden. Sie sollen vielmehr Ausgangspunkt für Überlegungen sein oder Denkanstöße, welche zu neuen Überlegungen führen können.Wie immer empfehle ich daher keine Argumente zu suchen, warum dies und jenes nicht so funktionieren kann, sondern zu überlegen, wie man etwas machbar machen kann. Wenn ein Notarzt in einer Notsituation sich zunächst damit beschäftigen würde, was alles sinnlos wäre, dann hätten die wenigsten Opfer Überlebenschancen. Denn hierbei zählt weder der Glaube, noch die Meinung, sondern valides Hintergrundwissen über die (neuen) Ansätze. Dies könnte im Falle der Bildung eben z. B. auch das Wissen um die Chronotypen der Schüler bzw. Mitarbeiter sein. Egal wie dieses Wissen erarbeitet wird, Ziel sollte nie sein „,Recht zu haben, sondern immer eine Win-win-Situation zu schaffen!

Klingt einfach, ist aber in der Realität eines der häufigsten Hindernisse auf dem Weg zu Innovationen.

Eines ist klar: Gesundheit, Bildung, Wissensmanagement und effizientes Wirtschaften sind nicht zu trennen. Es ist ein Beziehungskreis, innerhalb welchem eine Veränderung auch nur eines Parameters immer Auswirkungen auf die anderen Parameter hat. Dabei bietet die Chronobiologie eine Basis, die sich auf alle Beteiligten dieses Beziehungskreises positiv auswirken kann. Da die Bildungsqualität von heute maßgeblich unsere Zukunft definiert, sollte man alles daran setzen das Bildungssystem um den lernenden Menschen, egal ob Erwachsenen oder Schüler, zu biegen und nicht die Menschen um das Bildungssystem.

Chronobiologie in der Schule, das wäre der Beginn einer Bildungsevolution, die ganz neue Perspektiven schaffen kann.

Und ja … Chronotypenoptimierte Schulzeiten wären ein echter PISA-Booster, davon bin ich überzeugt!